...

Ruben wartete geduldig, bis Sebastian seine Sachen zusammengesucht hatte.
So sehr im der Ordnungsfimmel des Älteren auf den Geist gegangen war, es war schon beunruhigend, dass mittlerweile er selbst der Ordentlichere war.
Auch nicht ganz freiwillig, ihn störte das Chaos ja wenig, aber er hatte das Gefühl, dass wenn er ab und zu aufräumte und Ordnung in das Zimmer brachte, die Normalität einen Schritt näher kam.
Aber kaum dachte er das einmal, entfernte sie sich wieder mit zwei, drei großen Schritten und alles war noch verdrehter als sowieso schon.
"Jetzt renn doch nicht so", murrte er und bemühte sich mit seinem Freund Schritt zu halten. "Hat nicht jeder so lange Beine wie du."
Was hatte er sich genau davon versprochen, Sebastian hier hinaus zu schleppen?
Es war eigentlich in einem Wort zu beantworten: Normalität.
Dass sie eng aneinandergekuschelt durch die Gegend streifen würden, wie bei ihrem ersten Spaziergang hier hatte er nicht gehofft, aber~
Doch. Eigentlich hatte er genau das.
Aber so würde er Sebastian wenigstens davor bewahren, an seinem Stuhl festzuwachsen und in ihrem Zimmer zu vergammeln.
"Sebastian", schimpfte er, als er schon wieder zurück fiel. "Jetzt nimm doch mal den Turbo raus, es sind doch keine Höllenhunde hinter uns her!"

Widerwillig wurde Sebastian etwas langsamer und ging neben Ruby her, den Blick auf den Weg vor sich gerichtet.
Das würde jetzt mindestens zehn Minuten dauern, bis sie die Runde hinter sich hatten.
Zehn Minuten, in denen er nicht so tun konnte, als wäre er beschäftigt, damit der Jüngere ihn in Ruhe ließ.
Ruby nervte in den letzten Tagen einfach unglaublich.
Er tat die ganze Zeit so, als wäre alles in Butter, er ging sogar zu den Warblerproben und schmachtete da wahrscheinlich den neuen Kapitän an, während Sebastian mitten in der Krise war und einfach nicht mehr heraus kam.
Natürlich wusste er, dass er der Grund war, aber ihm fehlte die Kraft, irgendetwas zu ändern.
Er schaffte es nicht einmal, sich dazu aufzuraffen, in den Speisesaal zu gehen, weil da Menschen waren, mit denen er kommunizieren musste.
Dafür nahm er gerne in Kauf, mal einen Tag lang nur von Kaugummis und Leitungswasser zu leben oder einen geheimen Abstecher zum Automaten auf dem Flur zu machen, am besten spät in der Nacht, wenn niemand auf dem Flur unterwegs war.

So musste es sein, wenn man ein Kind hatte, den man im Laden verboten hatte sich etwas von den Süßigkeiten auszusuchen.
Okay, Sebastian schmiss sich nicht auf den Boden, trampelte mit den Füßen und schrie, aber er strafte Ruben mit völliger Nichtachtung.
Mal wieder.
Da wäre ihm die Kind-im-Supermarkt Variante sogar noch lieber gewesen, denn das würde bedeuten, dass er wenigstens irgendwas machte.
Er unternahm noch ein, zwei Versuche Sebastian dazu zu bringen sein Schweigen zu brechen, doch der war entweder mit seinen Gedanken schon wieder meilenweit entfernt oder wollte einfach nicht mit ihm reden.
Als sie schließlich wieder aufs Internat zugingen, war Rubens Laune auch auf dem Tiefpunkt angekommen.
Sie schwiegen sich gegenseitig an, bis sie wieder auf ihrem Zimmer waren.
"Man, das muss ja richtig furchtbar gewesen sein, was?", fauchte Ruben als Sebastian direkt wieder zu seinem momentan normalen Tagesprogramm überging.
Am Liebsten hätte er alle Bücher genommen und sie aus dem Fenster geworfen, aber das war ja leider Schuleigentum.
"Wieso holst du dir nicht dein altes Zimmer zurück? Davon dass wir zusammenwohnen merk ich im Moment sowieso nicht viel. Oder... das wir zusammen sind."

"Ich merk davon zu viel", entgegnete Sebastian, mit den Gedanken schon wieder ganz woanders, bei seinen Standard-Themen.
Er lehnte seinen Kopf gegen die Wand, irgendwie war der ganz schön schwer.
Aber es hatte ihn schon ziemlich viel Kraft gekostet, sich überhaupt aufzuraffen, um los zu gehen.
Und seine Kondition dürfte inzwischen auch im Eimer sein, immerhin hatte er seit einer Woche keinerlei Sport mehr gemacht.
Am liebsten würde er eigentlich nur noch im Bett liegen und schlafen oder mit geschlossenen Augen vor sich hin dösen.
Aber dann würden sich spätestens die Lehrer einschalten, wenn er nicht mehr zum Unterricht kam.
Das Leben an der Dalton ging außerhalb von diesem Zimmer seinen geregelten Gang, das Lacrosse-Team lief, genau wie die Warbler.
Und keiner vermisste ihn.
Wahrscheinlich war dieser Gedanke es, der ihn am meisten fertig machte.
Ihm fiel vieles zu, er war talentiert in vielen Bereichen.
Aber für seine Teams hatte er immer alles gegeben, er hatte alles getan, damit sie bei den Wettkämpfen erfolgreich waren, er hatte sich sogar um seine Mitglieder gekümmert, obwohl die ganzen Gefühlssachen eigentlich nicht so sein Ding waren.
Und das jetzt war der Dank.
Kein einziger, der nachfragte, ob er nicht zurück kommen wollte.
Keiner, der bedauerte, dass er weg vom Fenster war.
Keiner, der Wert darauf legte, dass er zumindest als normales Mitglied wieder einstieg geschweige denn doch wieder als Kapitän das Zepter übernahm.

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(Samstag)

Langsam schlenderte Ruben den Parkweg entlang und genoss die schon relativ warmen Sonnenstrahlen, die auf sein Gesicht trafen.
Er war gerade frühstücken gewesen und hatte nun keine Lust auf seinem Zimmer zu sitzen oder sich schon wieder an Kurt zu kletten, deshalb hatte er sich dazu entschieden hier draußen durch die Gegend zu streifen.
Ziemlich gute Entscheidung.
Angeblich konnte man ja jeder Situation etwas Positives abgewinnen - an dem halben Jahr, dass ihm fehlte auch. Er hatte den Winter verpasst.
Das war doch schonmal was.
Auch wenn er heute Nacht ziemlich merkwürdige Sachen geträumt hatte.
Er war mit Sebastian auf einer Party bei seinem Bruder gewesen, wo sie getrunken und auch fröhlich mitgekifft hatten.
Beim Aufwachen hatte er erst gedacht, dass nun Erinnerungen zurück kommen würden, doch das war bestimmt keine.
Das war dann doch ein bisschen zu unrealistisch.
Sein Gehirn hatte momentan wohl erschreckend viel Platz, um sich Blödsinn auszudenken.
Als er um eine Wegbiegung kam, sah er besagten Warblerkapitän in Sportklamotten auf ihn zutraben.
"Hey", meinte er lächelnd. "Du bist ja auch schon unterwegs. Frühsport?"

Sebastian joggte schon eine halbe Stunde, er war extra ein Stück durch das Waldgebiet hinter dem Dalton-Park gelaufen, um nicht so vielen zu begegnen.
Immerhin hatte er keine Angst mehr davor, mit Leuten in Kontakt zu treten, im Gegenteil.
Aber er brauchte Zeit zum Nachdenken, und beim Sport machen war ihm das schon immer gut gelungen, vor allem beim Joggen.
Seine Kondition war noch nicht auf dem alten Stand, das merkte er daran, dass seine Lungen ziemlich brannten, aber das würde nicht allzu schwierig sein, wieder zu seinem alten Stand zurück zu kommen.
Natürlich dachte er an Ruben, die ganze Zeit.
Er legte sich Möglichkeiten zurecht, wie er ihn wieder ins Bett bekam, wie er ihn ganz subtil wieder verführte, sodass der Kleine sich in den Arsch beißen würde, wenn seine Erinnerungen wieder kamen.
Als er um eine Biegung kam, sah er den Brünetten auf einmal, wie er langsam den Weg entlang schlenderte.
Sebastian verlangsamte seinen Schritt und blieb vor Ruben stehen.
Er stützte sich auf seine Oberschenkel und atmete ein paar Mal tief ein und aus, bevor er sich wieder aufrichtete und zurück lächelte.
"Könnte man so sagen. Hab ganz vergessen, wie schön es morgens im Park ist. Hatte 'ne ganze Weile genug Frühsport im Bett."
Er zwinkerte dem Jüngeren zu und fuhr sich durch die verschwitzten Haare.
"Und du? Sonst pennst du doch um die Zeit noch seelenruhig, du Morgenmuffel."

Ruben lächelte unsicher, als Sebastian den Kommentar zum Bettsport machte.
Mist, meinte er da jetzt ihn mit?
Bestimmt, immerhin hatten sie sich ja anscheinden vor nicht zu langer Zeit getrennt.
Die Sonne auf seinen Wangen wurde immer wärmer... ach nein, scheiße, er ließ nur einfach schon wieder rot an.
Verlegen rieb er sich über den Nacken und senkte den Blick.
Natürlich, sie waren ein halbes Jahr zusammen gewesen. Und Sebastian sah nicht aus wie jemand, der sich mit Wangenküsschen und Händchen halten zufrieden gab.
Aber trotzdem, er konnte es sich nicht richtig vorstellen.
Ganz von allein glitt sein Blick über den Körper des Älteren.
Vielleicht konnte er sich ja wirklich darauf freuen, sich wieder zu erinnern. Wer weiß, was für heiße Szenen sich da auf einmal auftun würden... ah shit, das war wirklich das falsche Thema wenn er seine normale Gesichtsfarbe zurückbekommen wollte.
"Ich bin gestern ziemlich früh schlafen gegangen, dann kommts sogar bei mir vor, dass ich mal früh wach bin", erklärte er stattdessen schnell und versuchte, überall anders hinzusehen, nur nicht auf den verschwitzten Jungen, dessen Anblick ihn ziemlich unruhig machte.
"Darf ich dich mal was fragen?", fiel ihm dann ein. "Kennst du meine Familie eigentlich?"
Das war ein guter Themawechsel. Niemand konnte gleichzeitig an Sex und seine Familie denken.
Und wenn er Glück hatte, konnte er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen:
Er könnte herausfinden, was es mit diesem Traum auf sich hatte, und er wüsste vielleicht, ob seine Familie über ihn Bescheid wusste.
Er hatte ja nicht einfach anrufen können.
'Hey Mom, ich bin gestern die Treppe runtergefallen und wollte nur wissen, ob ich mich schon geoutet hab?'
Das wäre etwas zu strange.

"Lass uns mal weiter gehen", sagte Sebastian und zeigte auf den Weg. "Ich will mich noch ein Bisschen auslaufen. Ja, ich kenn deine Familie. Hab mich schon mal fast mit deinem Bruder geprügelt und am Morgen nach seiner Geburtstagsparty deine Eltern kennen gelernt. Sie mögen mich ziemlich gerne, denke ich."
Dachte er, pfff...
Rubys Eltern liebten ihn.
Aber man wollte ja Bescheidenheit vorgaukeln.
"Ach ja, und wir haben es schon im Zimmer deines Bruders getrieben und sind von ihm erwischt worden", fiel Sebastian lachend ein.
Oha, das war vielleicht etwas zu heftig gewesen, nach Rubens Gesichtsausdruck zu urteilen.
"Keine Sorge, das ist schon eine Weile her und bisher hat er dich nicht erwürgt, das wird er nachträglich wohl auch nicht machen. Dafür hat er zu viel Schiss vor mir."
Wenn das nicht mal ein Pluspunkt war.
Ruby war ihm immer schon dankbar gewesen, dass er ihn vor seinem Bruder verteidigte.
Das würde jetzt auch ziehen.

Okay.
Damit konnte er etwas anfangen.
Er kannte Ray, anscheinend auch wenn der nicht gerade sein Sonntagsverhalten an den Tag legte - wobei der das eigentlich nie tat - und war wohl sogar mit auf der Geburtstagsparty gewesen.
Das könnte eigentlich sogar die Party aus seinem Traum gewesen sein, hatte Ray da wohl Geburtstag gehabt?
Und wenn er seine Eltern auch kannte, dann sollte er sein Outing wohl schon hinter sich gebracht haben.
Und... was???
Ruben klappte die Kinnlade runter und er starrte Sebastian mit einem Gesichtsausdruck an, der dem einer Kuh wenn es donnerte ziemlich nah kommen musste.
Dann drehte er seinen Kopf eilig zur Seite.
Nein. Niemals. Da verarschte der Ältere ihn aber, das musste so sein.
Doch der redete weiter, und was hätte er schon davon, Ruben einen Bären aufzubinden?
"Er hat Schiss vor dir?", wiederholte er und ließ seinen Blick nochmal zu Sebastians trainierten Armen wandern.
Oh ja, Sebastian hatte bestimmt jede Menge Kraft. Und er war wohl auch in ziemlich guter Form, was bei der fast-Prügelei bestimmt auch nicht von Nachteil gewesen war.
Naja, besser in Form als Ray war wohl ungefähr jeder.
Trotzdem konnte Ruben es sich nicht verkneifen, Sebastian anzulächeln.
"Dann sollte ich wohl danke sagen, was?", fragte er mit immer noch ziemlich roten Wangen.
"Da könnte ich nämlich sogar verstehen, wenn er mich klein gemacht hätte... und wenn du mich verarschen würdest, würdest du bestimmt schon lachen", stellte er ergeben fest. "Das stimmt wirklich, was?"

"'türlich stimmt das", grinste Sebastian. "Deine Erinnerungen kommen doch irgendwann wieder, und auch wenn ich einen guten Grund hätte, dich zu verarschen, die Geschichte ist viel zu gut, um sie sich auszudenken."
Dass er ihn gerade genau genommen tatsächlich verarschte, war noch eine ganz andere Geschichte.
Aber das würde Ruben schon noch früh genug merken.
"Gern geschehen", meinte er noch. "Aber es ist auch ziemlich schwer, Ray gegenüber nicht etwas aggressiv zu werden. Der Junge hat eindeutig den Schuss nicht gehört."
Sebastian zog die Tür zum Internat auf und lehnte sich dagegen, um Ruben vorbei hinein gehen zu lassen.
Dabei ließ er seinen Blick über den Körper seines Exfreundes gleiten.
Wie oft hatte er den schon nackt gesehen?
Wie oft schon die glatte, weiche Haut geküsst...
Trotzdem, irgendwie kam das vertraute Gefühl nicht ganz so auf, immerhin war das hier nicht Ruby.
Das war Ruben, der Neue.
Der Unsichere, den Sebastian einfach nur süß und zum Anbeißen fand.
Nicht Ruby, den er liebte.
Ach scheiße, er liebte ihn noch.
Aber das war auch irgendwie nicht verwunderlich, Gefühle verschwanden nicht so einfach, vor allem nicht Gefühle, die er vor Ruby noch nie gehabt hatte.
Umso tiefer saß der Groll gegen ihn.
Ruby hatte ihn verletzt, und zwar auf einer Ebene, die nur er erreichen konnte.
Das war es, was ihn immer davon abgehalten hatte, Leute an sich heran zu lassen.
Weil sie ihn so wirklich treffen konnten.

---> Flur//